Das Entsagen von der Eitelkeit
Der Ruf nach Verzicht ist allgegenwärtig. Egal, ob in Ernährungsfragen, in der Art, wie wir uns fortbewegen oder dem uns gewohnten Konsum frönen. Wie jeder einzelne von uns Verzicht in diesen Fragen handhabt, ist jedem selbst überlassen.
Aber wie wäre es mit einem neuen Gedankenexperiment in Sachen Verzicht? Ich möchte zum Verzicht auf die Eitelkeit ermutigen.
Kürzlich habe ich eine Führung in einem Schloss mitgemacht. Das Schloss war gut erhalten und außer der ein oder anderen Anekdote unterschied es sich nicht weiter von anderen Schlössern. Bis auf eine Kleinigkeit: Das Schloss verfügt über einen Raum, der die sieben Sünden in Gemälden und einem Spiegel zur Schau stellt. Der Spiegel symbolisiert die Eitelkeit und ich musste unweigerlich schmunzeln, da ich finde, dass die Eigentümer des Schlosses Humor bewiesen haben mit diesem Wink zur Selbstironie. Betrachtet man also erhobenen Hauptes das eigene Antlitz im Spiegel, ertappt man sich sogleich der Sünde.
Dabei ist die Fähigkeit zur Selbstreflektion ein grundlegender Bestandteil auf dem Weg zum Erkenntnisgewinn. Vielleicht sogar zur Weisheit.
Hochmut oder Eitelkeit wird in der katholischen Kirche den sieben Todsünden zugeschrieben. Wer sich bewusst einer der sieben Sünden hingibt, entsagt der Kirche Gottes. So galten Menschen, die sich selbst als hoch betrachteten, obwohl sie nichts von Bedeutung geleistet hatten, als Selbstbetrüger.
Aber nicht nur die Kirche befasste sich ausführlich mit dem Hochmut. Auch der Philosoph Marcus Tullius Cicero betrachtete mangelnde Bescheidenheit als eine Form von Hochmut. Stattdessen appellierte er für das Streben nach dem Guten, dem Einsatz für das Gemeinwohl und für das Mitgefühl für andere Menschen.
Der, der frei von Sünde ist..
Dieser Gedanke an die Eitelkeit ließ mich auch nach dem Schlossbesuch nicht mehr los. Jeder Mensch trägt ein gewisses Maß an Eitelkeit in sich. Manche stellen sie dabei mehr zur Schau als andere, aber frei von Eitelkeit sind wir alle nicht.
Gerade die eigene Eitelkeit ist es so oft, die uns selbst im Weg steht. Ist sie doch von der Angst getrieben in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Eitelkeit ist dabei als langer Prozess der eigenen Unzufriedenheit mit sich selbst erkennbar. Insbesondere vor großen Veränderungen, die viel Ungewissheit in sich bergen, scheuen wir uns. Im Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen nehmen viele Menschen diese Veränderungen als eine Bedrohung des eigenen Erfolges und als einen Rückfall in alte Zeiten wahr.
Plakative Beispiele sind die Automatisierung von Prozessen oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz. Über kurz oder lang werden beide Anwendungen etliche Jobs verändern, in vielen Bereichen haben sie das schon. In anderen Domänen wiederum werden Berufsbilder komplett obsolet.
Bestimmte, von Menschen ausgeführte Tätigkeiten werden dann nicht mehr benötigt. Dafür gibt es dann Maschinen, die von ausgeklügelten Computerprogrammen gesteuert werden. Die erledigen die Aufgaben meistens schneller, günstiger und präziser.
Ob uns das jetzt nun gefällt oder nicht. Aber in diese Richtung geht die Entwicklung – und zwar schnellen Schrittes. Aber anstatt den Menschen das Gefühl zu geben ersetzt zu werden, macht sie zu denen die, die Maschinen steuern und reparieren. Inklusion ist auch hier ein elementare Bestandteil einer funktionierenden und langfristig erfolgreichen Gesellschaft.
Hierfür werden wiederum neue Fähigkeiten gefragt, wie Data Science oder das Erlernen einer neuen Programmiersprache - oder wie auch jetzt schon der Fall: Der Fokus rückt vermehrt in den Bereich der interpersonellen Skills, wie Empathie, Teamfähigkeit oder die Formulierung einer inspirierenden und mitreißenden Vision.
Wichtig bei all diesen Gedanken ist, dass es die eine wahre Wirklichkeit nicht gibt. Wir können keine totalitäre Prognose darüber abgeben, wie sich die Dinge genau entwickeln werden, denn die Zukunft vorhersagen können wir nicht. Auch wenn wir das manchmal gerne würden. Nichtsdestotrotz können wir Szenarien beschreiben und durchdenken. Das wiederum legt die Gestaltungshoheit in die eigenen Hände und beruhigt das Gemüt.
Aber ganz gleich, in welche Richtung sich die Verschiebung der gefragten Fähigkeiten bewegt, eines ist sicher: Wir müssen uns von der Idee der Unersetzbarkeit verabschieden. Diese überzogene und unreflektierte Eitelkeit ist es, die den freien Fall auf den Boden der Tatsachen wie einen sanften Segelflug anmuten lässt.
Wachstum statt Vakuum
Und dennoch: Arbeitskraft ist austauschbar. Fachliche Fähigkeiten sind ersetzbar und die Berufe von morgen werden andere Anforderungen haben, als sie das heute haben oder gestern hatten.
Das ist auch gut so, denn neben den großen und bedrohlichen Veränderungen liegt auch eine Chance. Die Chance etwas Neues zu lernen und an sich selbst zu wachsen. Lebenslanges Lernen hält den Geist auf Trapp. Penibel genaue gesunde Ernährung und regelmäßiger Sport sind schließlich auch zum Lifestyle ganzer Generationen geworden. Wieso dann nicht auch Anpassungsfähigkeit und lebenslanges Lernen gleich mit auf die mentale To-do – Liste setzen?
Herausforderungen und ungelöste Probleme gibt genügend. Letztlich gibt es weltweit mehr Probleme als verfügbare Zeit für deren Lösungen.
In der Elektronikentwicklung zum Beispiel wird seit Jahrzehnten nach demselben Prinzip gearbeitet. Es gibt Anforderungsdokumente, Stücklisten, einen Ingenieur, der Tage damit zubringt einen Schaltplan zu erstellen, um dann schließlich eine funktionierende Leiterplatte zu entwickeln. Dabei gibt es immer weniger Ingenieure, die über genau dieses Knowhow verfügen, denn der demografische Wandel betrifft auch die Elektronikentwicklung. Auf der einen Seite gehen die Ingenieure in Rente und nehmen ihren Erfahrungsschatz mit. Auf der anderen Seite kommen bei weitem nicht genug neue Studierende nach, um den Bedarf an gut ausgebildeten Elektronikingenieuren zu decken. Die jungen, talentierten Menschen gehen vermehrt in die IT. Hier winken große Karrierechancen und der Sektor liegt im Trend. Eine verzwickte Situation, denn die Software braucht schließlich die Hardware, um nutzbar zu sein.
Was ist also die Lösung? Die Automatisierung von Prozessen. Die gesamten Arbeitsschritte von der Schaltplanerstellung, über die Einbeziehung der Stücklisten und das Auslesen der Datenblätter ist vollständig automatisierbar. Über ein zentrales Datenbankverwaltungssystem können Referenzdesigns sortiert und strukturiert werden. Ein anderes System wiederum ist in der Lage allein auf Basis der gewünschten Funktionalitäten voll-funktionsfähige Prototypen von Leiterplattendesigns zu erstellen.
Der Ingenieur muss im Nachgang lediglich überprüfen, ob die beschriebenen Funktionen wirklich den Anforderungen entsprechen. Wird dem Spezialisten dadurch Kompetenz abgesprochen? Keineswegs! Das Gegenteil ist der Fall, denn wo ein Ingenieur früher Wochen mit dem Design einer Leiterplatte zubrachte, sind es mittels Automatisierung nur noch wenige Stunden und es wird Zeit für kreatives Arbeiten und Problemlösen freigesetzt, die vorher blockiert war. Sich wiederholende und stupide Aufgaben fallen weg. Der Ingenieur kann sich neuen Tätigkeiten widmen und gezielt neue Herausforderungen angehen für die vorher keine Zeit war. Die menschliche Komponente bleibt. Sie bekommt sogar die spannenderen Aufgaben.
Wer bereit ist, sich etwas Neues anzueignen, kann nur gewinnen. Ob das nun beruflicher Natur ist oder einfach für die eigene Entwicklung, ist dabei unwesentlich. Aber bei zu langanhaltendem Stillstand und Nichtausschöpfen der eigenen Fertigkeiten laufen wir Gefahr in ein geistiges Vakuum zu versickern und der Verstand verkümmert, noch ehe er voll zum Einsatz kam.
Immer wieder werden Stimmen laut, die hinter der Verwendung neuer Technologien bösartige Absichten von Einzelpersonen vermuten und das Kollektiv der Ahnungslosigkeit bezichtigen. Manche ersinnen sogar das Einpflanzen von Microchips in menschliche Körper als neue Wirklichkeit. Das sind dieselben Menschen, die sich vehement weigern den positiven Aspekten der Digitalisierung Raum zu geben und die jede Entwicklung in Frage stellen. Ihr erklärtes Hauptziel ist das Entlarven der versteckten Pläne der Bourgeoisie. Dieses Ziel führt zu den ominösesten Behauptungen und allzu oft zum technologischen Stillstand. Manchmal auch zum geistigen.
Aber eigentlich geht es hier um etwas Großes. Es geht um nicht weniger als die nächste Evolutionsstufe zu erreichen und der menschlichen Schaffenskraft ihren verdienten Raum zu geben.
Die immer Gestrigen werden sich in dieser Idee nicht wiederfinden. Der Protektionismus bewahrt sie davor sich auf neue Entwicklungen einzulassen und aus der ein oder anderen Ecke hört man mal lautes, mal leises Wehklagen über die schöne gute alte Zeit.
Ein wenig mehr Gemeinschaft
Aber wen interessiert denn heute noch die gute alte Zeit? Wir leben im hier und jetzt und es ist an uns die Zukunft und das Morgen aktiv zu gestalten.
Aber nicht nur diejenigen auf der Umsetzungsebene sind gefragt auf die eigene Eitelkeit zu verzichten. Es liegt auch in der Verantwortung derjenigen Personen, die schwierig zu verstehende Systeme entwickeln, die Zeit zu investieren, die notwendig ist, um komplexe Anwendungen erklärbar zu machen und für ein Mindestmaß an Transparenz zu sorgen. Erklärbarkeit und Offenheit sind die Grundsteine für eine breite Akzeptanz in unserer Gesellschaft. So wenig wie sich die eine Seite vor Neuem verschließen darf, so wenig Arroganz darf die andere Seite an der Tag legen, wenn es darum geht, Dinge zu erklären und zugänglich zu machen.
Also lassen Sie uns doch ein wenig mehr für die Gemeinschaft eintreten, aufeinander zugehen und Rücksicht aufeinander nehmen. Lassen Sie uns gemeinsam einstehen für ein prosperierendes und innovatives Land, für ein bisschen mehr Fortschritt und für ein wenig weniger Eitelkeit.